Vortrag über Ethik: Difference between revisions

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|translator=Übersetzt von {{person link|Peter Winslow}}
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|notes=Originaltext: Ludwig Wittgenstein. "A Lecture on Ethics." ''The Philosophical Review'', vol. 74, no. 1, Jan. 1965, pp. 3–12. Der Originaltext ist in seinem Herkunftsland (die Vereinigte Staaten) nicht gemeinfrei, wurde aber durch die Rechteinhaber weltweit unter der Lizenz {{plainlink|[https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/deed.de Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell 4.0 International]}} verfügbar gemacht. Außerdem ist der Originaltext gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist, in alle Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 70 oder weniger Jahren nach dem Tod des Urhebers. Diese Übersetztung ist unter der Lizenz {{plainlink|[https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International]}} verfügbar.
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Nun gilt das Gleiche für das andere von mir angeführte Erlebnis, das Erlebnis der absoluten Sicherheit. Im gewöhnlichen Leben wissen wir alle, was es heißt, sicher zu sein. In meinem Zimmer bin ich sicher, wenn ich von einem Omnibus nicht überfahren werden kann. Ich bin sicher, wenn ich Keuchhusten hatte und ihn daher nicht wieder kriegen kann. Im Wesentlichen heißt »sicher sein«, dass es physikalisch unmöglich ist, dass mir bestimmte Dinge geschehen, und daher ist es Unsinn zu sagen, dass ich sicher bin, ''egal was'' geschieht. Wie das andere Beispiel ein Missbrauch des Worts »Existenz« bzw. »erstaunen« war, ist dies auch ein Missbrauch des Worts »sicher«. Nun möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ein bestimmter charakteristischer Missbrauch unserer Sprache durch ''alle'' ethischen und religiösen Ausdrücke zieht.
Nun gilt das Gleiche für das andere von mir angeführte Erlebnis, das Erlebnis der absoluten Sicherheit. Im gewöhnlichen Leben wissen wir alle, was es heißt, sicher zu sein. In meinem Zimmer bin ich sicher, wenn ich von einem Omnibus nicht überfahren werden kann. Ich bin sicher, wenn ich Keuchhusten hatte und ihn daher nicht wieder kriegen kann. Im Wesentlichen heißt »sicher sein«, dass es physikalisch unmöglich ist, dass mir bestimmte Dinge geschehen, und daher ist es Unsinn zu sagen, dass ich sicher bin, ''egal was'' geschieht. Wie das andere Beispiel ein Missbrauch des Worts »Existenz« bzw. »erstaunen« war, ist dies auch ein Missbrauch des Worts »sicher«. Nun möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ein bestimmter charakteristischer Missbrauch unserer Sprache durch ''alle'' ethischen und religiösen Ausdrücke zieht.


All diese Ausdrücke ''scheinen'' prima facie nur ''Gleichnisse'' zu sein. So scheinen wir das Wort ''richtig'' im ethischen Sinne zu verwenden, obwohl wir das Wort ''richtig'' nicht im trivialen Sinne meinen – es ist etwas ähnliches; und wenn wir sagen, »das ist ein guter Kerl«, obwohl das Wort ''gut'' hier nicht dieselbe Bedeutung hat wie im Satz, »das ist ein guter Fußballer«, so scheint eine gewisse Ähnlichkeit zu bestehen. Und wenn wir sagen, »dieser Mann führte ein wertvolles Leben«, meinen wir dies nicht in demselben Sinn, in dem wir von einem wertvollen Schmuck sprechen würden, auch wenn eine Art Analogie scheinbar besteht. In diesem Sinne werden alle religiösen Begriffe nun scheinbar als Gleichnisse oder Allegorien verwendet. Denn wenn wir von Gott reden und davon, dass er alles sieht, und wenn wir uns niederknieen und zu ihm beten, sind alle unserer Begriffe und Handlungen scheinbar Teile einer großen und umfangreichen Allegorie, die ihn als Mensch großer Macht darstellt, dessen Gnade wir für uns gewinnen möchten etc., etc. Aber diese Allegorie beschreibt auch das gerade von mir genannte Erlebnis. Denn das erste Erlebnis ist, glaube ich, genau das, was die Menschen damals mit den Worten, Gott erschuf die Welt, gemeint haben; und das Erlebnis der absoluten Sicherheit wurde dadurch beschrieben, dass wir uns in Gotteshand sicher fühlen.<ref>''Anm. d. Übers''.: Die Übersetzung des Verbs »to create« mit »erschaffen« ruht auf einem Gespräch zwischen Wittgenstein und Waismann, das wiedergegeben wurde, in Brian McGuinness, hrsg. ''Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis: Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann''. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1967, Seite 118:<br/>
All diese Ausdrücke ''scheinen'' prima facie nur ''Gleichnisse'' zu sein. So scheinen wir das Wort ''richtig'' im ethischen Sinne zu verwenden, obwohl wir das Wort ''richtig'' nicht im trivialen Sinne meinen – es ist etwas ähnliches; und wenn wir sagen, »das ist ein guter Kerl«, obwohl das Wort ''gut'' hier nicht dieselbe Bedeutung hat wie im Satz, »das ist ein guter Fußballer«, so scheint eine gewisse Ähnlichkeit zu bestehen. Und wenn wir sagen, »dieser Mann führte ein wertvolles Leben«, meinen wir dies nicht in demselben Sinn, in dem wir von einem wertvollen Schmuck sprechen würden, auch wenn eine Art Analogie scheinbar besteht. In diesem Sinne werden alle religiösen Begriffe nun scheinbar als Gleichnisse oder Allegorien verwendet. Denn wenn wir von Gott reden und davon, dass er alles sieht, und wenn wir uns niederknieen und zu ihm beten, sind alle unserer Begriffe und Handlungen scheinbar Teile einer großen und umfangreichen Allegorie, die ihn als Mensch großer Macht darstellt, dessen Gnade wir für uns gewinnen möchten etc., etc. Aber diese Allegorie beschreibt auch das gerade von mir genannte Erlebnis. Denn das erste Erlebnis ist, glaube ich, genau das, was die Menschen damals mit den Worten, Gott erschuf die Welt, gemeint haben; und das Erlebnis der absoluten Sicherheit wurde dadurch beschrieben, dass wir uns in Gotteshand sicher fühlen.<ref>''Anm. d. Übers''.: Die Übersetzung des Verbs »to create« mit »erschaffen« ruht auf einem Gespräch zwischen Wittgenstein und Waismann, das wiedergegeben wurde, in Brian McGuinness, hrsg. ''Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis: Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann''. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1967, Seite 118:<br />
:''Wittgenstein: Daß hier ein Zusammenhang besteht, haben die Menschen gefühlt und das so ausgedrückt: Gottvater hat die Welt erschaffen, Gott-Sohn'' (''oder das Wort, das von Gott ausgeht'') ''ist das Ethische''. […]<br/>
:''Wittgenstein: Daß hier ein Zusammenhang besteht, haben die Menschen gefühlt und das so ausgedrückt: Gottvater hat die Welt erschaffen, Gott-Sohn'' (''oder das Wort, das von Gott ausgeht'') ''ist das Ethische''. […]<br />
Dem ersten Anschein nach stimmt diese Wortwahl mit der Wortwahl, die heute in der Einheitsübersetzung der Bibel (sprich: in der katholischen Bibel) enthalten ist: »Im Anfang ''erschuf'' Gott […]« (Genesis 1,1) [''Hervorhebung diesseits'']. Dahingegen lautet die Wortwahl in der lutherischen Bibel so: »Am Anfang ''schuf'' Gott […]« [''Hervorhebung diesseits'']. Bei diesem Umstand häufen sich Fragen, unter anderem: Sollte Wittgensteins Wortwahl tatsächlich katholisch sein? Wie lautet diese Stelle in der damaligen katholischen Bibel? in Österreich? Hatte Waismann die Worte Wittgensteins in leicht abgeänderter Form aufgezeichnet? Während diese und weiteren Fragen interessante Problemstellungen für die künftige Forschung darstellen, sprengten jede Ausführung zu ihnen den Rahmen einer Anmerkung. Dieser Umstand ist nur deswegen im Rahmen dieser Übersetzung von Belang, weil diese Wortwahl auf eine weitere, nachstehende Stelle der Übersetzung wirkt. Siehe die nachstehende [[#cite_ref-6|''Anm. d. Übers''. Nr. 6]].</ref> Ein drittes Erlebnis derselben Art ist das des Schuldgefühls und dies wurde wiederum durch die Phrase beschrieben, dass Gott unser Verhalten missbilligt. Scheinbar verwenden wir also konstant Gleichnisse in der ethischen und religiösen Sprache. Aber ein Gleichnis muss ein Gleichnis für ''etwas'' sein. Und wenn ich eine Tatsache durch ein Gleichnis beschreiben kann, muss ich auch in der Lage sein, auf das Gleichnis zu verzichten und die Tatsachen ohne das Gleichnis zu beschreiben. Dahingegen gilt in unserem Fall: Sobald wir versuchen, auf das Gleichnis zu verzichten und die hinter ihm stehenden Tatsachen zu erklären, stellen wir fest, dass es keine solchen Tatsachen gibt. Und was also zunächst als Gleichnis aussah, scheint nun bloßer Unsinn zu sein.
Dem ersten Anschein nach stimmt diese Wortwahl mit der Wortwahl, die heute in der Einheitsübersetzung der Bibel (sprich: in der katholischen Bibel) enthalten ist: »Im Anfang ''erschuf'' Gott […]« (Genesis 1,1) [''Hervorhebung diesseits'']. Dahingegen lautet die Wortwahl in der lutherischen Bibel so: »Am Anfang ''schuf'' Gott […]« [''Hervorhebung diesseits'']. Bei diesem Umstand häufen sich Fragen, unter anderem: Sollte Wittgensteins Wortwahl tatsächlich katholisch sein? Wie lautet diese Stelle in der damaligen katholischen Bibel? in Österreich? Hatte Waismann die Worte Wittgensteins in leicht abgeänderter Form aufgezeichnet? Während diese und weiteren Fragen interessante Problemstellungen für die künftige Forschung darstellen, sprengten jede Ausführung zu ihnen den Rahmen einer Anmerkung. Dieser Umstand ist nur deswegen im Rahmen dieser Übersetzung von Belang, weil diese Wortwahl auf eine weitere, nachstehende Stelle der Übersetzung wirkt. Siehe die nachstehende [[#cite_ref-6|''Anm. d. Übers''. Nr. 6]].</ref> Ein drittes Erlebnis derselben Art ist das des Schuldgefühls und dies wurde wiederum durch die Phrase beschrieben, dass Gott unser Verhalten missbilligt. Scheinbar verwenden wir also konstant Gleichnisse in der ethischen und religiösen Sprache. Aber ein Gleichnis muss ein Gleichnis für ''etwas'' sein. Und wenn ich eine Tatsache durch ein Gleichnis beschreiben kann, muss ich auch in der Lage sein, auf das Gleichnis zu verzichten und die Tatsachen ohne das Gleichnis zu beschreiben. Dahingegen gilt in unserem Fall: Sobald wir versuchen, auf das Gleichnis zu verzichten und die hinter ihm stehenden Tatsachen zu erklären, stellen wir fest, dass es keine solchen Tatsachen gibt. Und was also zunächst als Gleichnis aussah, scheint nun bloßer Unsinn zu sein.


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Denn durch sie wollte ich nur ''über die Welt hinausgehen''; das heißt: über die sinnvolle Sprache hinaus. Meine ganze Tendenz – und ich glaube, die Tendenz aller Menschen, die jemals versucht haben, über die Ethik oder Religion zu sprechen oder zu schreiben – bestand darin, gegen die Grenze der Sprache anzurennen. Dieses Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs ist vollkommen, absolut hoffnungslos. Die Ethik, sofern sie einem Wunsch entspringt, etwas über den endgültigen Sinn des Lebens, das absolut Gute, das absolut Wertvolle zu sagen, kann keine Wissenschaft sein. Was sie sagt, führt zu keinen neuen Erkenntnissen in irgendeinem Sinne. Aber sie ist ein Nachweis einer Tendenz im menschlichen Geiste, vor der ich für mein Teil nur den Hut ziehen kann und über die ich mich nie im Leben lustig machen würde.
Denn durch sie wollte ich nur ''über die Welt hinausgehen''; das heißt: über die sinnvolle Sprache hinaus. Meine ganze Tendenz – und ich glaube, die Tendenz aller Menschen, die jemals versucht haben, über die Ethik oder Religion zu sprechen oder zu schreiben – bestand darin, gegen die Grenze der Sprache anzurennen. Dieses Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs ist vollkommen, absolut hoffnungslos. Die Ethik, sofern sie einem Wunsch entspringt, etwas über den endgültigen Sinn des Lebens, das absolut Gute, das absolut Wertvolle zu sagen, kann keine Wissenschaft sein. Was sie sagt, führt zu keinen neuen Erkenntnissen in irgendeinem Sinne. Aber sie ist ein Nachweis einer Tendenz im menschlichen Geiste, vor der ich für mein Teil nur den Hut ziehen kann und über die ich mich nie im Leben lustig machen würde.


== Fußnoten ==
<references/>


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==Literaturverzeichnis==
Biesenbach, Hans. ''Anspielungen und Zitate im Werk Ludwig Wittgensteins. Erweiterte Ausgabe''. Sofia: Sofia University Press, 2014.
 
McGuinness, Brian, hrsg. ''Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis: Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann''. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1967.
 
Moore, G.E. ''Principia Ethica''. []: SophiaOmni, 2017.
 
———. ''Principia Ethica''. ''Erweiterte Ausgabe''. Übersetzt von Burkhard Wisser. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co., 1996.
 
Shakespeare, William. ''Hamlet, Prinz von Dänemark''. In ''Tragödien'', herausgegeben von Günter Klotz, übersetzt von August Wilhelm Schlegel, Dorothea Tieck und Wolf Graf Baudissin 263–387. Berlin: aufbau taschenbuch, 2009.
 
Wittgenstein, Ludwig. »A Lecture on Ethics«. ''The Philosophical Review'', vol. 74, no. 1, Jan. 1965, Seiten 3–12.
 
———. ''Culture and Value''. ''Revised Edition''. Herausgegeben von G.H. von Wright. Überarbeitet von Alois Pichler. Übersetzt von Peter Winch. Oxford: Blackwell Publishing, 1998.
 
———. ''Lecture on Ethics''. Herausgegeben von Ermelinda Valentina Di Lascio Edoardo Zamuner und D.K. Levy. West Sussex: Wiley Blackwell, 2014.
 
———. ''Philosophical Investigations''. ''Revised 4th Edition''. Übersetzt von G.E.M. Anscombe, P.M.S. Hacker und Joachim Schulte. West Sussex: Wiley-Blackwell, 2009.
 
———. ''Philosophische Untersuchungen: Auf der Grundlage der Kritisch-genetischen Edition''. Herausgegeben von Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003.
 
———. ''Tagebücher 1914–1916''. In ''Wittgenstein, Ludwig. Werkausgabe Band 1: Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914–1916, Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1984.'' Seiten 87–187.
 
———''Tractatus logico-philosophicus''. Herausgegeben von Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2014.
 
———. ''Tractatus Logico-Philosophicus''. Übersetzt von Brian McGuinness und David Pears Oxon: Routledge, 2001.
 
———. »Vortrag über Ethik«. In ''Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften'', herausgegeben von Joachim Schulte, übersetzt von Joachim Schulte. 9–19. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1989.