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|translator=Übersetzt von {{person link|Peter Winslow}}<ref>''Anm. d. Übers.'': Ich bedanke mich bei [[Main Page|The Ludwig Wittgenstein Project]] für den stets konstruktiven Austausch im Zusammenhang mit dieser Übersetzung. Insbesondere bedanke ich mich bei Frau Dr. {{person link|Jasmin Trächtler}}, Herrn Dr. {{person link|Frederic Kettelhoit}} und Herrn {{person link|Michele Lavazza}} für ihre Kommentare und Kritik. Ohne diese wäre diese Übersetzung eine ganz andere geworden. Sollte die Übersetzung wider Erwarten mangelhaft sein, so trage ich allein die Verantwortung.</ref> | |translator=Übersetzt von {{person link|Peter Winslow}}<ref>''Anm. d. Übers.'': Ich bedanke mich bei [[Main Page|The Ludwig Wittgenstein Project]] für den stets konstruktiven Austausch im Zusammenhang mit dieser Übersetzung. Insbesondere bedanke ich mich bei Frau Dr. {{person link|Jasmin Trächtler}}, Herrn Dr. {{person link|Frederic Kettelhoit}} und Herrn {{person link|Michele Lavazza}} für ihre Kommentare und Kritik. Ohne diese wäre diese Übersetzung eine ganz andere geworden. Sollte die Übersetzung wider Erwarten mangelhaft sein, so trage ich allein die Verantwortung.</ref> | ||
|notes=Originaltext: Ludwig Wittgenstein: ''A Lecture on Ethics''. In: ''The Philosophical Review''. Band 74, Nr. 1, Januar 1965, S. 3–12. Der Originaltext ist in seinem Herkunftsland (USA) nicht gemeinfrei, wurde aber durch die Rechteinhaber weltweit unter der Lizenz {{plainlink|[https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/deed.de Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell 4.0 International]}} zur Verfügung gestellt. Außerdem ist der Originaltext in allen Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 70 oder weniger Jahren nach dem Tod des Urhebers gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist. Diese Übersetzung ist unter der Lizenz {{plainlink|[https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International]}} veröffentlicht. | |notes=Originaltext: Ludwig Wittgenstein: ''[[Lecture on Ethics|A Lecture on Ethics]]''. In: ''The Philosophical Review''. Band 74, Nr. 1, Januar 1965, S. 3–12. Der Originaltext ist in seinem Herkunftsland (USA) nicht gemeinfrei, wurde aber durch die Rechteinhaber weltweit unter der Lizenz {{plainlink|[https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/deed.de Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell 4.0 International]}} zur Verfügung gestellt. Außerdem ist der Originaltext in allen Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 70 oder weniger Jahren nach dem Tod des Urhebers gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist. Diese Übersetzung ist unter der Lizenz {{plainlink|[https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International]}} veröffentlicht. | ||
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Ich habe gesagt: Sofern es sich um Tatsachen und Sätze handelt, gibt es nur relativen Wert und das relativ Gute, Richtige etc. Und bevor ich weiter ausführe, erlauben Sie mir dies anhand eines ziemlich offensichtlichen Beispiels zu veranschaulichen. Die richtige Straße ist die Straße, die zu einem willkürlich vorgegebenen Ziel führt, wobei es uns allen vollkommen klar ist, dass es keinen Sinn ergibt, unabhängig von diesem vorgegebenen Ziel von der richtigen Straße zu reden. Nun versuchen wir mal festzustellen, was wir eventuell mit dem Ausdruck »''die'' absolut richtige Straße« meinen könnten. Ich glaube, sie wäre die Straße, die beim Anblick allein ''alle'' ''mit logischer Notwendigkeit'' betreten müssten bzw. sich schämen müssten, wenn sie sie nicht beträten. Und ähnlich beim absolut Guten: Das ''absolut Gute'', wenn es ein beschreibbarer Sachverhalt ist, wäre einer, den alle unabhängig von ihrem Geschmacksempfinden und ihren Neigungen ''notwendig'' herbeiführten bzw. ''notwendig'' ein schlechtes Gewissen hätten, wenn sie diesen nicht herbeiführten. Und ich will sagen, ein solcher Sachverhalt ist eine Chimäre. An sich hat kein Sachverhalt das, was ich als Zwangsgewalt eines absoluten Richters bezeichnen möchte. Was schwebt uns allen dann vor, wenn Menschen, wie ich, noch Ausdrücke wie »das absolute Gute«, »absoluter Wert« etc. verwenden wollen – was schwebt uns im Geist vor und was versuchen wir da zum Ausdruck zu bringen? | Ich habe gesagt: Sofern es sich um Tatsachen und Sätze handelt, gibt es nur relativen Wert und das relativ Gute, Richtige etc. Und bevor ich weiter ausführe, erlauben Sie mir dies anhand eines ziemlich offensichtlichen Beispiels zu veranschaulichen. Die richtige Straße ist die Straße, die zu einem willkürlich vorgegebenen Ziel führt, wobei es uns allen vollkommen klar ist, dass es keinen Sinn ergibt, unabhängig von diesem vorgegebenen Ziel von der richtigen Straße zu reden. Nun versuchen wir mal festzustellen, was wir eventuell mit dem Ausdruck »''die'' absolut richtige Straße« meinen könnten. Ich glaube, sie wäre die Straße, die beim Anblick allein ''alle'' ''mit logischer Notwendigkeit'' betreten müssten bzw. sich schämen müssten, wenn sie sie nicht beträten. Und ähnlich beim absolut Guten: Das ''absolut Gute'', wenn es ein beschreibbarer Sachverhalt ist, wäre einer, den alle unabhängig von ihrem Geschmacksempfinden und ihren Neigungen ''notwendig'' herbeiführten bzw. ''notwendig'' ein schlechtes Gewissen hätten, wenn sie diesen nicht herbeiführten. Und ich will sagen, ein solcher Sachverhalt ist eine Chimäre. An sich hat kein Sachverhalt das, was ich als Zwangsgewalt eines absoluten Richters bezeichnen möchte. Was schwebt uns allen dann vor, wenn Menschen, wie ich, noch Ausdrücke wie »das absolute Gute«, »absoluter Wert« etc. verwenden wollen – was schwebt uns im Geist vor und was versuchen wir da zum Ausdruck zu bringen? | ||
Nun wenn ich versuche, mir dies klar zu machen, ist es normal, dass ich mich Fälle entsinne, in denen ich bestimmt diese Ausdrücke verwenden würde, wobei ich mich dann in die Lage versetze, in der Sie sich auch befänden, wenn ich Ihnen zum Beispiel über die Psychologie der Lust einen Vortrag gehalten hätte. Hier hätten Sie versucht, sich einer typischen Situation zu entsinnen, in der Sie stets Lust fühlen. Denn beim Vorschweben dieser Situation im Geiste würde alles, was ich Ihnen sagte, konkret und gleichsam nachprüfbar. Als Paradebeispiel wählte man vielleicht die Empfindung beim Spaziergang an einem schönen Sommertag. Nun in dieser Situation befinde ich mich, wenn ich mein geistiges Auge darauf richten möchte, was ich mit absolutem oder ethischem Wert meine. Und in meinem Fall präsentiert sich immer wieder die Idee eines bestimmten Erlebnisses, das daher in einem Sinne mein Erlebnis ''par excellence'' ist, und aus diesem Grund möchte ich dieses Erlebnis als Paradebeispiel im Rahmen dieses Vortrags anführen. (Wie schon gesagt, ist dies ganz persönlich und andere würden andere Beispiele plakativer finden). Ich möchte dieses Erlebnis beschreiben, damit Sie sich womöglich desselben oder ähnlicher Erlebnisse entsinnen, sodass wir womöglich einen gemeinsamen Grund für unsere Untersuchung haben; dieses Erlebnis lässt sich, glaube ich, am besten wie folgt beschreiben: Wenn ich es habe, ''bin ich über die Existenz der Welt erstaunt''. Und dann neige ich zur Verwendung solcher Phrasen wie »wie außerordentlich, dass überhaupt etwas existiert« oder »wie außerordentlich, dass die Welt existiert«. Ich möchte auch ein weiteres Erlebnis nennen, das mir bekannt ist und das vielleicht auch einige von Ihnen kennen: Dieses Erlebnis ist, könnte man sagen, das Erlebnis des Gefühls der ''absoluten'' Sicherheit. Ich meine den Geisteszustand, in dem man zu sagen geneigt ist, »ich bin sicher, nichts kann mir schaden, egal was geschieht«.<ref>''Anm. d. Übers.'': Dies – »egal, was geschieht« – ist eine Anspielung auf die Komödie in drei Akten ''Die Kreuzelschreiber'' von Ludwig Anzengruber (1839–89). Belegt in: Hans Biesenbach: ''Anspielungen und Zitate im Werk Ludwig Wittgensteins. Erweiterte Ausgabe''. Sofia University Press, 2014, S. 21–23.</ref> Nun erlauben Sie mir, diese Erlebnisse näher zu betrachten, da sie, glaube ich, genau die Merkmale aufweisen, über die wir Klarheit erlangen möchten. Und hier ist das Erste, was ich sagen möchte, dies: Der sprachliche Ausdruck, den wir diesen Erlebnissen verleihen, ist Unsinn! | Nun wenn ich versuche, mir dies klar zu machen, ist es normal, dass ich mich Fälle entsinne, in denen ich bestimmt diese Ausdrücke verwenden würde, wobei ich mich dann in die Lage versetze, in der Sie sich auch befänden, wenn ich Ihnen zum Beispiel über die Psychologie der Lust einen Vortrag gehalten hätte. Hier hätten Sie versucht, sich einer typischen Situation zu entsinnen, in der Sie stets Lust fühlen. Denn beim Vorschweben dieser Situation im Geiste würde alles, was ich Ihnen sagte, konkret und gleichsam nachprüfbar. Als Paradebeispiel wählte man vielleicht die Empfindung beim Spaziergang an einem schönen Sommertag. Nun in dieser Situation befinde ich mich, wenn ich mein geistiges Auge darauf richten möchte, was ich mit absolutem oder ethischem Wert meine. Und in meinem Fall präsentiert sich immer wieder die Idee eines bestimmten Erlebnisses, das daher in einem Sinne mein Erlebnis ''par excellence'' ist, und aus diesem Grund möchte ich dieses Erlebnis als Paradebeispiel im Rahmen dieses Vortrags anführen. (Wie schon gesagt, ist dies ganz persönlich und andere würden andere Beispiele plakativer finden). Ich möchte dieses Erlebnis beschreiben, damit Sie sich womöglich desselben oder ähnlicher Erlebnisse entsinnen, sodass wir womöglich einen gemeinsamen Grund für unsere Untersuchung haben; dieses Erlebnis lässt sich, glaube ich, am besten wie folgt beschreiben: Wenn ich es habe, ''bin ich über die Existenz der Welt erstaunt''. Und dann neige ich zur Verwendung solcher Phrasen wie »wie außerordentlich, dass überhaupt etwas existiert« oder »wie außerordentlich, dass die Welt existiert«. Ich möchte auch ein weiteres Erlebnis nennen, das mir bekannt ist und das vielleicht auch einige von Ihnen kennen: Dieses Erlebnis ist, könnte man sagen, das Erlebnis des Gefühls der ''absoluten'' Sicherheit. Ich meine den Geisteszustand, in dem man zu sagen geneigt ist, »ich bin sicher, nichts kann mir schaden, egal was geschieht«.<ref>''Anm. d. Übers.'': Dies – »egal, was geschieht« – ist eine Anspielung auf die Komödie in drei Akten ''Die Kreuzelschreiber'' von Ludwig Anzengruber (1839–89). Belegt in: Hans Biesenbach: ''Anspielungen und Zitate im Werk Ludwig Wittgensteins. Erweiterte Ausgabe''. Sofia University Press, Sofia 2014, S. 21–23.</ref> Nun erlauben Sie mir, diese Erlebnisse näher zu betrachten, da sie, glaube ich, genau die Merkmale aufweisen, über die wir Klarheit erlangen möchten. Und hier ist das Erste, was ich sagen möchte, dies: Der sprachliche Ausdruck, den wir diesen Erlebnissen verleihen, ist Unsinn! | ||
Wenn ich sage, »ich bin über die Existenz der Welt erstaunt«, so missbrauche ich die Sprache. Ich möchte dies so erklären: Die Worte, ich bin darüber erstaunt, dass etwas der Fall ist, ergeben einen vollkommen guten und klaren Sinn; wir alle verstehen, was die Worte bedeuten: Ich bin über die Größe eines Hundes erstaunt, der größer ist als jeder, den ich bisher gesehen habe, oder über etwas, das im gewöhnlichen Sinne des Worts außerordentlich ist. In diesen Fällen bin ich darüber erstaunt, dass etwas der Fall ist, da ich dies auch als etwas auffassen ''könnte'', das ''nicht'' der Fall ist. Ich bin über die Größe dieses Hundes erstaunt, weil ich mir einen Hund einer anderen – nämlich: einer gewöhnlichen – Größe vorstellen könnte, über deren Größe ich nicht erstaunt wäre. Die Worte »ich bin darüber erstaunt, dass dies und jenes der Fall ist« ergeben nur Sinn, wenn ich mir vorstellen kann, dass es nicht der Fall ist. In diesem Sinne kann man etwa über die Existenz eines Hauses erstaunt sein, wenn man es sieht und seit langem nicht mehr drin war und sich gedacht hat, dass es mittlerweile abgerissen wurde. Aber die Worte, ich bin über die Existenz der Welt erstaunt, sind Unsinn, da ich mir nicht vorstellen kann, dass sie nicht existiert. Ich könnte natürlich darüber erstaunt sein, dass die Welt um mich herum ist, wie sie ist. Wenn ich zum Beispiel beim Starren in den blauen Himmel dieses Erlebnis hätte, könnte ich darüber erstaunt sein, dass der Himmel blau ist – im Gegensatz zu dem Fall, dass er bewölkt ist. Aber das meine ich nicht. Ich bin über den Himmel erstaunt, dass er ist, ''wie auch immer er sein mag''. Man will vielleicht sagen, dass das, worüber ich erstaunt bin, eine Tautologie ist, nämlich: darüber, dass der Himmel blau oder nicht blau ist. Aber zu sagen, dass man über eine Tautologie erstaunt ist, ist einfach Unsinn. | Wenn ich sage, »ich bin über die Existenz der Welt erstaunt«, so missbrauche ich die Sprache. Ich möchte dies so erklären: Die Worte, ich bin darüber erstaunt, dass etwas der Fall ist, ergeben einen vollkommen guten und klaren Sinn; wir alle verstehen, was die Worte bedeuten: Ich bin über die Größe eines Hundes erstaunt, der größer ist als jeder, den ich bisher gesehen habe, oder über etwas, das im gewöhnlichen Sinne des Worts außerordentlich ist. In diesen Fällen bin ich darüber erstaunt, dass etwas der Fall ist, da ich dies auch als etwas auffassen ''könnte'', das ''nicht'' der Fall ist. Ich bin über die Größe dieses Hundes erstaunt, weil ich mir einen Hund einer anderen – nämlich: einer gewöhnlichen – Größe vorstellen könnte, über deren Größe ich nicht erstaunt wäre. Die Worte »ich bin darüber erstaunt, dass dies und jenes der Fall ist« ergeben nur Sinn, wenn ich mir vorstellen kann, dass es nicht der Fall ist. In diesem Sinne kann man etwa über die Existenz eines Hauses erstaunt sein, wenn man es sieht und seit langem nicht mehr drin war und sich gedacht hat, dass es mittlerweile abgerissen wurde. Aber die Worte, ich bin über die Existenz der Welt erstaunt, sind Unsinn, da ich mir nicht vorstellen kann, dass sie nicht existiert. Ich könnte natürlich darüber erstaunt sein, dass die Welt um mich herum ist, wie sie ist. Wenn ich zum Beispiel beim Starren in den blauen Himmel dieses Erlebnis hätte, könnte ich darüber erstaunt sein, dass der Himmel blau ist – im Gegensatz zu dem Fall, dass er bewölkt ist. Aber das meine ich nicht. Ich bin über den Himmel erstaunt, dass er ist, ''wie auch immer er sein mag''. Man will vielleicht sagen, dass das, worüber ich erstaunt bin, eine Tautologie ist, nämlich: darüber, dass der Himmel blau oder nicht blau ist. Aber zu sagen, dass man über eine Tautologie erstaunt ist, ist einfach Unsinn. | ||
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== Weitere Literatur == | == Weitere Literatur == | ||
Biesenbach, Hans: ''Anspielungen und Zitate im Werk Ludwig Wittgensteins. Erweiterte Ausgabe''. Sofia University Press, 2014. | Biesenbach, Hans: ''Anspielungen und Zitate im Werk Ludwig Wittgensteins. Erweiterte Ausgabe''. Sofia University Press, Sofia 2014. | ||
McGuinness, Brian (Hrsg.): ''Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis: Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann''. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1967. | McGuinness, Brian (Hrsg.): ''Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis: Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann''. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1967. |