Ludwig Wittgenstein
Bemerkungen über Frazers “The Golden Bough”
This digital edition is a diplomatic version of extracts of Wittgenstein’s Nachlass Ms-110, Ts-211 and Ms-143 produced with the Interactive Dynamic Presentation tool[N] provided by the Wittgenstein Archives at the University of Bergen (WAB). This original-language text is in the public domain in its country of origin and other countries and areas where the copyright term is the author's life plus 70 years or fewer.
Ludwig Wittgenstein
Bemerkungen über Frazers The Golden Bough
I. Teil
ʃ
[Ich glaube jetzt dass es richtig wäre ein <mein> Buch über mit Bemerkungen über die Metaphysik als eine Art der Magie zu beginnen.
ʃ Worin ich aber weder der Magie das Wort reden, noch mich über sie lustig machen darf.
ʃ
Von der Magie müsste die Tiefe beibehalten werden. – Ja das Ausschalten jeder der Magie hat hier den Charakter der Magie selbst. (MS 110, p. 177)
ʃ Denn wenn ich damit anfing von der »Welt« zu reden (und nicht von diesem Baum oder Tisch) was wollte ich anderes als etwas Höheres in meine Worte bannen.] (MS 110, p. 178)
Man muss beim Irrtum ansetzen und ihn in die Wahrheit überführen.
D.h. man muss die Quelle des Irrtums aufdecken, sonst nützt uns das Hören der Wahrheit nichts. Sie kann nicht eindringen, wenn etwas anderes ihren Platz einnimmt.
Einen von der Wahrheit zu überzeugen, genügt es nicht, die Wahrheit zu konstatieren, sondern man muss den Weg vom Irrtum zur Wahrheit finden.
Ich muss immer wieder im Wasser des Zweifels untertauchen.
Frazers Darstellung der magischen und religiösen Anschauungen der Menschen ist unbefriedigend: sie lässt diese Anschauungen als Irrtümer erscheinen.
So war also Augustinus im Irrtum, wenn er Gott auf jeder Seite der Confessiones anruft?
Aber – kann man sagen – wenn er nicht im Irrtum war, so war es doch der buddhistische Heilige – oder welcher immer – dessen Religion ganz andere Anschauungen zum Ausdruck bringt. Aber keiner von ihnen war im Irrtum. Außer wo er eine Theorie aufstellte.
Schon die Idee, den Gebrauch – etwa die Tötung des Priester-königs – erklären zu wollen, scheint mir verfehlt. Alles was Frazer tut ist, sie Menschen, die so ähnlich denken wie er, plausibel zu machen. Es ist sehr merkwürdig, dass alle diese Gebräuche endlich so zu sagen als Dummheiten dargestellt werden.
Nie wird es aber plausibel, dass die Menschen aus purer Dummheit //all das// tun.
Wenn er uns z.B. erklärt, der König müsse in seiner Blüte getötet werden, (TS 211, p. 313) weil nach den Anschauungen der Wilden sonst seine Seele nicht frisch erhalten würde, so kann man doch nur sagen: Wo jener Gebrauch und diese Anschauung zusammengehen, dort entspringt nicht der Gebrauch der Anschauung, sondern sie sind eben beide da.
Es kann schon sein, und kommt heute oft vor, dass ein Mensch einen Gebrauch aufgibt, nachdem er einen Irrtum erkannt hat, auf den sich dieser Gebrauch stützte. Aber dieser Gebrauch Fall besteht eben nur dort, wo es genügt den Menschen auf seinen Irrtum aufmerksam zu machen, um ihn von seiner Handlungsweise abzubringen. Aber das ist doch bei den religiösen Gebrauche eines Volkes nicht der Fall und darum handelt es sich eben um keinen Irrtum.
Frazer sagt, es sei sehr schwer, den Irrtum in der Magie zu entdecken – und darum halte sie sich so lange – weil z.B. eine Beschwörung, die Regen herbeiführen soll, früher oder später gewiss als wirksam erscheint. Aber dann ist es eben merkwürdig, dass die Menschen nicht früher darauf kommen, dass es ohnehin früher oder später regnet.
Ich glaube, dass das Unternehmen einer Erklärung schon darum verfehlt ist, weil man nur richtig zusammenstellen muss, was man weiß, und nichts dazusetzen, und die Befriedigung, die durch die Erklärung angestrebt wird, ergibt sich von selbst.
Und die Erklärung ist es hier gar nicht, die befriedigt. Wenn Frazer anfängt und uns die Geschichte von dem Waldkönig von Nemi erzählt, so tut er dies in einem Ton, der zeigt, dass er fühlt und uns fühlen lassen will, dass hier etwas Merkwürdiges und Furchtbares geschieht. Die Frage aber »warum geschieht dies?« wird eigentlich dadurch beantwortet: Weil es furchtbar ist. Das heißt, dasselbe, was uns bei diesem Vorgang furchtbar, großartig, schaurig, tragisch, etc., nichts weniger als trivial und bedeutungslos vorkommt, das hat diesen Vorgang ins Leben gerufen. (TS 211, p. 314)
Nur beschreiben kann man hier und sagen: so ist das menschliche Leben.
Die Erklärung ist im Vergleich mit dem Eindruck, den uns das Beschriebene macht, zu unsicher.
Jede Erklärung ist ja eine Hypothese.
Wer aber, etwa, von der Liebe beunruhigt ist, dem wird eine hypothetische Erklärung wenig helfen. – Sie wird ihn nicht beruhigen.
Das Gedränge der Gedanken, die nicht heraus können, weil sich alle vordrängen wollen und so am Ausgang verkeilen.
Wenn man mit jener Erzählung vom Priesterkönig von Nemi das Wort »die Majestät des Todes« zusammenstellt, so sieht man, dass die beiden Eins sind.
Das Leben des Priesterkönigs stellt das dar, was mit jenem Wort gemeint ist.
Wer von der Majestät des Todes ergriffen ist, kann dies durch so ein Leben zum Ausdruck bringen. – Dies ist natürlich auch keine Erklärung, sondern setzt nur ein Symbol für ein anderes. Oder: eine Zeremonie für eine andere.
Einem religiösen Symbol liegt keine Meinung zu Grunde.
Und nur der Meinung entspricht der Irrtum.
Man möchte sagen: Dieser und dieser Vorgang hat stattgefunden; lach', wenn Du kannst. (TS 211, p. 315)
Die religiösen Handlungen, oder das religiöse Leben des Priesterkönigs ist von keiner andern Art, als jede echt religiöse Handlung heute, etwa ein Geständnis der Sünden. Auch dieses lässt sich »erklären« und lässt sich nicht erklären.
In effigie verbrennen. Das Bild der Geliebten küssen. Das basiert natürlich nicht auf einem Glauben an eine bestimmte Wirkung auf den Gegenstand, den das Bild darstellt. Es bezweckt eine Befriedigung und erreicht sie auch. Oder vielmehr, es bezweckt gar nichts; wir handeln eben so und fühlen uns dann befriedigt.
Man könnte auch den Namen der Geliebten küssen, und hier wäre die Stellvertretung durch den Namen klar.
Der selbe Wilde, der, anscheinend um seinen Feind zu töten, dessen Bild durchsticht, baut seine Hütte aus Holz wirklich und schnitzt seinen Pfeil kunstgerecht und nicht in effigie.
Die Idee, dass man einen leblosen Gegenstand zu sich herwinken kann, wie man einen Menschen zu sich herwinkt. Hier ist das Prinzip das, der Personifikation.
Und immer beruht die Magie auf der Idee des Symbolismus und der Sprache.
Die Darstellung eines Wunsches ist, eo ipso, die Darstellung seiner Erfüllung.
Die Magie aber bringt einen Wunsch zur Darstellung; sie äußert einen Wunsch. (TS 211, p. 316)
Die Taufe als Waschung. – Ein Irrtum entsteht erst, wenn die Magie wissenschaftlich ausgelegt wird.
Wenn die Adoption eines Kindes so vor sich geht, dass die Mutter es durch ihre Kleider zieht, so ist es doch verrückt zu glauben, dass hier ein Irrtum vorliegt und sie glaubt, das Kind geboren zu haben.
Von den magischen Operationen sind die zu unterscheiden, die auf einer falschen, zu einfachen, Vorstellung der Dinge und Vorgänge beruhen. Wenn man etwa sagt, die Krankheit ziehe von einem Teil des Körpers in den andern, oder Vorkehrungen trifft, die Krankheit abzuleiten, als wäre sie eine Flüssigkeit oder ein Wärmezustand. Man macht sich dann also ein falsches, das heißt hier, unzutreffendes Bild.
Welche Enge des seelischen Lebens bei Frazer! Daher: Welche Unmöglichkeit, ein anderes Leben zu begreifen, als das englische seiner Zeit!
Frazer kann sich keinen Priester vorstellen, der nicht im Grunde ein englischer Parson unserer Zeit ist, mit seiner ganzen Dummheit und Flauheit.
Warum sollte dem Menschen sein Name nicht heilig sein können. Ist er doch einerseits das wichtigste Instrument, das ihm gegeben wird, anderseits wie ein Schmuckstück, das ihm bei der Geburt umgehangen wird.
Wie irreführend die Erklärungen Frazers sind, sieht man – glaube ich – daraus, dass man primitive Gebräuche sehr wohl selbst erdichten könnte und es müsste ein Zufall sein, wenn sie nicht irgendwo wirklich gefunden würden. Das heißt, das Prinzip, nach welchem diese Gebräuche geordnet sind, ist ein viel allgemeineres als Frazer es erklärt und in unserer eigenen Seele vorhanden, so dass wir uns alle Möglichkeiten selbst ausdenken könnten. – Dass etwa der König eines Stammes für niemanden sichtbar bewahrt wird, können wir uns wohl vorstellen, aber auch, dass jeder (TS 211, p. 317) Mann des Stammes ihn sehen soll. Das letztere wird dann gewiss nicht in irgendeiner mehr oder weniger zufälligen Weise geschehen dürfen, sondern er wird den Leuten gezeigt werden. Vielleicht wird ihn niemand berühren dürfen, vielleicht aber jeder berühren müssen. Denken wir daran, dass nach Schuberts Tod sein Bruder Partituren Schuberts in kleine Stücke zerschnitt und seinen Lieblingsschülern solche Stücke von einigen Takten gab. Diese Handlung, als Zeichen der Pietät, ist uns ebenso verständlich, wie die andere, die Partituren unberührt, niemandem zugänglich, aufzubewahren. Und hätte Schuberts Bruder die Partituren verbrannt, so wäre auch das als Zeichen der Pietät verständlich.
Das Zeremonielle (heiße oder kalte) im Gegensatz zum Zufälligen (lauen) charakterisiert die Pietät.
Ja, Frazers Erklärungen wären überhaupt keine Erklärungen, wenn sie nicht letzten Endes an eine Neigung in uns selbst appellierten.
Das Essen und Trinken ist mit Gefahren verbunden, nicht nur für den Wilden, sondern auch für uns; nichts natürlicher, als dass man sich vor diesen schützen will; und nun könnten wir uns selbst solche Schutzmaßnahmen ausdenken. – Aber nach welchem Prinzip denken wir sie uns aus //nach welchem Prinzip erdichten wir sie//? Offenbar danach, dass alle Gefahren der Form nach auf einige sehr einfache reduziert werden, die dem Menschen ohne weiteres sichtbar sind. Also nach dem selben Prinzip, nach dem die ungebildeten Leute unter uns sagen, die Krankheit ziehe sich vom Kopf in die Brust etc., etc. In diesen einfachen Bildern wird natürlich die Personifikation eine große Rolle spielen, denn, dass Menschen (also Geister) dem Menschen gefährlich werden können, ist uns //jedem// bekannt.
Dass der Schatten des Menschen, der wie ein Mensch ausschaut, oder sein Spiegelbild, dass Regen, Gewitter, die Mondphasen, der Jahreszeitwechsel, die Ähnlichkeit uns Verschiedenheit der Tiere unter einander und zum Menschen, die Erscheinungen des Todes, der Geburt und der Geschlechts-(TS 211, p. 318)lebens, kurz alles, was der Mensch jahraus jahrein um sich wahrnimmt, in mannigfaltigster Weise mit einander verknüpft, in seinem Denken (seiner Philosophie) und seinen Gebräuchen auftreten //eine Rolle spielen// wird, ist selbstverständlich, oder ist eben das, was wir wirklich wissen und interessant ist.
Wie hätte das Feuer oder die Ähnlichkeit des Feuers mit der Sonne verfehlen können auf den erwachenden Menschengeist einen Eindruck zu machen. Aber nicht vielleicht »weil er sich's nicht erklären kann« (der dumme Aberglaube unserer Zeit) – denn wird es durch eine »Erklärung« weniger eindrucksvoll? –
Die Magie in »Alice in Wonderland« beim Trocknen durch Vorlesen des Trockensten was es gibt.
Bei der magischen Heilung einer Krankheit bedeutet man ihr, sie möge den Patienten verlassen.
Man möchte nach der Beschreibung so einer magischen Kur immer Sagen: Wenn das die Krankheit nicht versteht, so weiß ich nicht, wie man es ihr sagen soll.
Nichts ist so schwierig, als Gerechtigkeit gegen die Tatsachen.
Ich meine nicht, dass gerade das Feuer Jedem einen Eindruck machen muss. Das Feuer nicht mehr, wie jede andere Erscheinung, und die eine Erscheinung Dem, die andere Jenem. Denn keine Erscheinung ist an sich besonders geheimnisvoll, aber jede kann es uns werden, und das ist eben das Charakteristische am erwachenden Geist des Menschen, dass ihm eine Erscheinung bedeutend wird. Man könnte fast sagen, der Mensch sei ein zeremonielles Tier. Das ist wohl teils falsch, teils unsinnig, aber es ist auch etwas Richtiges daran.
Das heißt, man könnte ein Buch über Anthropologie so anfangen: Wenn man das Leben und Benehmen der Menschen auf der Erde betrachtet, so sieht man, dass sie außer den Handlungen, die man tierische nennen könnte, der Nahrungsaufnahme, etc., etc., etc., auch solche ausführen, die einen (TS 211, p. 319) ganz anderen //eigentümlichen// Charakter tragen und die man rituelle Handlungen nennen könnte.
Nun aber ist es Unsinn, so fortzufahren, dass man als das Charakteristische dieser Handlungen sagt, sie seien solche, die aus fehlerhaften Anschauungen über die Physik der Dinge entsprängen.
(So tut es Frazer, wenn er sagt, Magie sei wesentlich falsche Physik, bzw. Falsche Medizin //Heilkunst//, Technik, etc.)
Vielmehr ist das Charakteristische der rituellen Handlung gar keine Ansicht, Meinung, ob sie nun richtig oder falsch ist, obgleich eine Meinung – ein Glaube – selbst auch rituell sein kann, zum Ritus gehören kann.
Wenn man es für selbstverständlich hält, dass sich der Mensch an seiner Phantasie vergnügt, so bedenke man, dass diese Phantasie nicht wie ein gemaltes Bild oder ein plastisches Modell ist, sondern ein kompliziertes Gebilde aus heterogenen Bestandteilen: Wörtern und Bildern.
Man wird dann das Operieren mit Schrift- und Lautzeichen nicht mehr in Gegensatz stellen zu dem Operieren mit »Vorstellungsbildern« der Ereignisse.
Wir müssen die ganze Sprache durchpflügen.
Frazer: »... That these observances are dictated by fear of the ghost of the slain seems certain; ...« Aber warum gebraucht Frazer denn das Wort »ghost«? Er versteht also sehr wohl diesen Aberglauben, da er ihn uns mit einem ihm geläufigen abergläubischen Wort erklärt. Oder vielmehr, er hätte daraus sehen können, dass auch in uns etwas für jene Handlungsweisen der Wilden spricht. – Wenn ich, der ich nicht glaube, dass es irgendwo menschlich-übermenschliche Wesen gibt, die man Götter nennen kann – wenn ich sage: »ich fürchte die Rache der Götter«, so zeigt das, dass ich damit etwas meinen (kann), oder einer Empfindung Ausdruck geben kann, die nicht notwendig (TS 211, p. 320) mit jenem Glauben verbunden ist.
Frazer wäre im Stande zu glauben, dass ein Wilder aus Irrtum stirbt. In Volksschullesebüchern steht, dass Attila seine großen Kriegszüge unternommen hat, weil er glaubte, das Schwert des Donnergottes zu besitzen.
Frazer ist viel mehr savage, als die meisten seiner savages, denn diese werden nicht so weit vom Verständnis einer geistigen Angelegenheit entfernt sein, wie ein Engländer des 20sten Jahrhunderts. Seine Erklärungen der primitiven Gebräuche sind viel roher, als der Sinn dieser Gebräuche selbst.
Die historische Erklärung, die Erklärung als eine Hypothese der Entwicklung ist nur eine Art der Zusammenfassung der Daten – ihrer Synopsis. Es ist ebenso wohl möglich, die Daten in ihrer Beziehung zu einander zu sehen und in ein allgemeines Bild zusammenfassen, ohne es in Form einer Hypothese über die zeitliche Entwicklung zu machen.
Identifizierung der eigenen Götter mit Göttern andrer Völker. Man überzeugt sich davon, dass die Namen die gleiche Bedeutung haben.
»Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz« möchte man zu der Frazerschen Tatsachensammlung sagen. Dieses Gesetz, diese Idee kann ich nun durch eine Entwicklungshypothese ausdrücken //darstellen// oder auch, analog dem Schema einer Pflanze, durch das Schema einer religiösen Zeremonie, oder aber durch die Gruppierung des Tatsachenmaterials allein, in einer »übersichtlichen« Darstellung. (TS 211, p. 321)
Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist für uns von grundlegender Bedeutung. Er bezeichnet unsere Darstellungsform, die Art wie (TS 211, p. 281) wir die Dinge sehen. (Eine Art der 'Weltanschauung' wie sie scheinbar für unsere Zeit typisch ist. Spengler)
Diese übersichtliche Darstellung vermittelt das Verstehen //Verständnis//, welches eben darin besteht, dass wir die "Zusammenhänge sehen". Daher die Wichtigkeit des Findens von Zwischengliedern. (TS 211, p. 282)
Ein hypothetisches Zwischenglied aber soll in diesem Falle nichts tun, als die Aufmerksamkeit auf die Ähnlichkeit, den Zusammenhang, der Tatsachen lenken. Wie wenn man eine interne Beziehung der Kreisform zur Ellipse dadurch illustrieren wollte //illustrierte//, dass man eine Ellipse allmählich in einen Kreis überführt; aber nicht um zu behaupten, dass eine gewisse Ellipse tatsächlich, historisch, aus einem Kreis entstanden wäre (Entwicklungshypothese), sondern nur um unser Auge für einen formalen Zusammenhang zu schärfen.
Aber auch die Entwicklungshypothese kann ich als weiter Nichts sehen, als die »eine« Einkleidung eines formalen Zusammenhangs. (TS 211, p. 322)
Ich möchte sagen: nichts zeigt unsere Verwandtschaft mit jenen Wilden besser, als dass Frazer ein ihm und uns so geläufiges Wort wie »ghost« oder »shade« bei der Hand hat, um die Ansichten dieser Leute zu beschreiben. (TS 211, p. 250)
(Das ist ja doch etwas anderes, als wenn er etwa beschriebe, die Wilden bildeten //bilden// sich ein, dass ihnen ihr Kopf herunterfällt, wenn sie einen Feind erschlagen haben. Hier hätte unsere Beschreibung nichts Abergläubisches oder Magisches an sich.)
Ja, diese Sonderbarkeit bezieht sich nur auf die Ausdrücke »ghost« und »shade«, und es wird viel zu wenig Aufhebens davon gemacht, dass wir das Wort »Seele«, »Geist« (»pirit«) zu unserem eigenen gebildeten Vokabular zählen. Dagegen ist eine Kleinigkeit, dass wir nicht glauben, dass unsere Seele isst und trinkt.
In unserer Sprache ist eine ganze Mythologie niedergelegt.
Austreiben des Todes oder Umbringen des Todes; aber anderseits wird er als Gerippe dargestellt, also selbst in gewissem Sinne tot. »As dead as death«. ‚Nichts ist so tot wie der Tod; nichts so schön wie die Schönheit selbst‘. Das Bild, worunter man sich hier die Realität denkt ist, dass die Schönheit, der Tod, etc. die reine (konzentrierte) Substanz ist »die reinen (konzentrierten) Substanzen sind«, während sie in einem schönen Gegenstand als Beimischung vorhanden ist »sind«. – Und erkenne ich hier nicht meine eigenen Betrachtungen über ‚Gegenstand‘ und ‚Komplex‘? (TS 211, p. 251)
In den alten Riten haben wir den Gebrauch einer äußerst ausgebildeten Gebärdensprache.
Und wenn ich in Frazer lese, so möchte ich auf Schritt und Tritt sagen: Alle diese Prozesse, diese Wandlungen der Bedeutung, haben wir noch in unserer Wortsprache vor uns. Wenn das, was sich in der letzten Garbe verbirgt, der ‚Kornwolf‘ genannt wird, aber auch diese Garbe selbst, und auch der Mann der sie bindet, so erkennen wir hierin einen uns wohlbekannten sprachlichen Vorgang. (TS 211, p. 281)
ø\ Ich könnte mir denken, dass ich die Wahl gehabt hätte, ein Wesen der Erde als die Wohnung für meine Seele zu wählen und dass mein Geist dieses unansehnliche (nicht-anziehende) Geschöpf als seinen Sitz und Aussichtspunkt gewählt hätte. Etwa, weil ihm (MS 110 p. 253) die Ausnahme eines schönen Sitzes zuwider wäre. Dazu müsste freilich der Geist seiner selbst sehr sicher sein.
ø\ Man könnte sagen »jeder Aussicht ist ein Reiz abzugewinnen«, aber das wäre falsch. Richtig ist es, zu sagen, jede Aussicht ist bedeutsam für den der sie bedeutsam sieht (das heißt aber nicht, sie anders sieht als sie ist). Ja, in diesem Sinne, ist jede Aussicht gleich bedeutsam.
ø\ Ja, es ist wichtig, dass ich auch die Verachtung des Andern für mich «↓ mir» zu eigen machen muss, als einen wesentlichen und bedeutsamen Teil der Welt von meinem Ort gesehen. (MS 110, p. 254)
ø\ Wenn es einem Menschen freigestellt wäre «↓ sich» in einen Baum eines Waldes geboren zu werden »gebären zu lassen«: so gäbe es Solche, die sich den schönsten oder höchsten Baum aussuchen würden, solche die sich den kleinsten wählten und solche die sich einen Durchschnitts- oder minderen Durchschnittsbaum wählen würden, und zwar meine ich nicht aus Philiströsität, sondern aus eben dem Grund, oder der Art von Grund, warum sich der Andre den höchsten gewählt hat. Dass das Gefühl welches wir für unser Leben haben mit dem eines solchen Wesens, das sich seinen Standpunkt in der Welt wählen konnte, vergleichbar ist, liegt, glaube ich, dem Mythus – oder dem Glauben – zugrunde, wir hätten uns unsern Körper vor der Geburt gewählt. (MS 110, p. 255)
ø\ Ich glaube, das Charakteristische des primitiven Menschen ist es, dass er nicht aus Meinungen handelt (dagegen Frazer). Ich lese unter vielen ähnlichen Beispielen von einem Regen-König in Afrika zu dem die Leute um Regen bitten, wenn die Regenperiode kommt. Aber das heißt doch, dass sie nicht eigentlich meinen, er könne Regen machen, sonst würden sie es in den trockenen Perioden des Jahres, in der das Land »a parched and arid desert« ist, machen. Denn wenn man annimmt, dass die Leute einmal aus Dummheit dieses Amt des Regenkönigs eingesetzt haben, so ist es doch gewiss klar, dass sie schon vorher die Erfahrung hatten, dass im März der Regen beginnt und sie hätten dann den Regenkönig für den übrigen Teil des Jahres funktionieren lassen. Oder auch so: Gegen morgen, wenn die Sonne aufgehen will, werden von den Menschen Riten des Tagwerdens zelebriert, aber nicht in der Nacht, sondern da brennen sie einfach Lampen.
ø [Wenn ich über etwas wütend bin, so schlage ich manchmal mit meinem Stock auf die Erde oder an einen Baum, etc. Aber ich glaube doch nicht, dass die Erde schuld ist, oder das Schlagen etwas helfen kann. »Ich lasse meinen Zorn aus«. Und dieser Art sind alle Riten. Solche Handlungen kann man Instinkt-(MS 110, p. 297)Handlungen nennen. – Und eine historische Erklärung, etwa dass ich früher oder meine Vorfahren früher geglaubt haben, das Schlagen der Erde helfe etwas, sind Spiegelfechtereien, denn sie sind überflüssige Annahmen, die nichts erklären. Wichtig ist die Ähnlichkeit des Aktes mit einem Akt der Züchtigung, aber mehr als diese Ähnlichkeit ist nichts zu konstatieren.
Ist ein solches Phänomen einmal mit einem Instinkt, den ich selber besitze, in Verbindung gebracht, so ist eben dies die gewünschte »ersehnte« Erklärung; d.h. die welche das besondere puzzlement »diese besondere Schwierigkeit« löst. Und eine Betrachtung »weitere Forschung« über die Geschichte meines Instinkts bewegt sich nun auf andern Bahnen.
ø\ Kein geringer Grund d.h. überhaupt kein Grund kann es gewesen sein, was gewisse Menschenrassen den Eichbaum verehren ließ, sondern nur das, dass sie und die Eiche in einer Lebensgemeinschaft »Symbiose« vereinigt waren, also nicht aus Wahl sondern wie der Floh und der Hund «↓ in ihrer Entstehung vereinigt». (Entwickelten die Flöhe einen Ritus, er würde sich auf den Hund beziehen.) {mit einander entstanden}
ø\ Man könnte sagen, nicht ihre Vereinigung (von Eiche und Mensch) hat zu diesen Riten die Veranlassung gegeben, sondern vielleicht ihre Trennung. {sondern, in gewissem Sinne, ihre Trennung}.
ø\ Denn das Erwachen des Intellekts geht mit einer Trennung von dem ursprünglichen Boden der ursprünglichen Grundlage des Lebens vor sich. (Die Entstehung der Wahl.) (MS 110, p. 298)
ø\ (Die Form des erwachenden Geistes ist die Verehrung.) (MS 110, p. 299)]
II. Teil
[168
Dies ist natürlich nicht so, dass das Volk glaubt, der Herrscher habe diese Kräfte, der Herrscher aber sehr wohl weiß, dass er sie nicht hat oder es nur dann nicht weiß, wenn er ein Schwachkopf oder Narr ist. Sondern die Notion von seiner Kraft ist natürlich schon so eingerichtet, dass sie mit der Erfahrung – des Volkes und seiner – übereinstimmen kann. Dass dabei irgend eine Heuchelei eine Rolle spielt (MS 143, p. 1) ist nur wahr, sofern sie überhaupt bei dem meisten, was Menschen tun, nahe liegt.
169
Wenn ein Mensch in unserer (oder doch meiner) Gesellschaft zu viel lacht, so presse ich halb unwillkürlich die Lippen zusammen, als glaubte ich, die seinen dadurch zusammenhalten zu können. (MS 143, p. 2)
170
Der Unsinn ist hier, dass Frazer es so darstellt, als hätten diese Völker eine vollkommen falsche (ja wahnsinnige) Vorstellung vom Laufe der Natur, während sie nur eine merkwürdige Interpretation der Phänomene besitzen. D.h. ihre Naturkenntnis, wenn sie sie niederschrieben, würde von der unsern sich nicht fundamental unterscheiden. Nur ihre Magie ist anders. (MS 143, p. 3)
171
»A network of prohibitions and observances of which the intention is not to contribute to his dignity...« Das ist wahr und falsch. Freilich nicht die Würde des Schutzes der Person wohl aber die – sozusagen – natürliche Heiligkeit der Gottheit in ihm.]
So einfach es klingt: der Unterschied zwischen Magie und Wissenschaft kann dahin ausgedrückt werden, dass (MS 143, p. 4) es in der Wissenschaft einen Fortschritt gibt, aber nicht in der Magie. Die Magie hat keine Richtung der Entwicklung, die in ihr selbst liegt.
(MS 143, p. 5)
[179
Wie viel mehr Wahrheit darin, dass der Seele dieselbe Multiplizität gegeben wird wie dem Leib als in einer modernen verwässerten Theorie.
Frazer merkt nicht, dass wir da Platos und Schopenhauers Lehre vor uns haben. (MS 143, p. 6)
Alle kindlichen (infantilen) Theorien finden wir in der heutigen Philosophie wieder; nur nicht mit dem Gewinnenden des Kindlichen. (MS 143, p. 7)]
614
Das Auffallendste schiene mir außer den Ähnlichkeiten die Verschiedenheit aller dieser Riten zu sein. Es ist eine Mannigfaltigkeit von Gesichtern mit gemeinsamen Zügen die da und dort immer wieder auftauchen. Und was man tun möchte, ist Linien ziehen, die die gemeinsamen Bestandteile verbinden. Es fehlt dann noch ein Teil der Betrachtung und es ist der, welcher dieses Bild mit unsern eigenen Gefühlen und Gedanken in Verbindung bringt. Dieser Teil gibt der Betrachtung ihre Tiefe. (MS 143, p. 8)
In allen diesen Gebräuchen sieht man allerdings etwas, der Ideenassoziation Ähnliches und mit ihr Verwandtes. Man könnte von einer Assoziation der Gebräuche reden. (MS 143, p. 9)
618
Nichts spricht dafür, warum das Feuer mit solchem Nimbus umgeben sein sollte. Und, wie seltsam, was heißt es eigentlich »es schien vom Himmel gekommen zu sein«? von welchem Himmel. Nein, es ist gar nicht selbstverständlich, dass das Feuer so betrachtet wird; – aber es wird eben so betrachtet. (MS 143, p. 10)
618
Hier scheint die Hypothese erst der Sache Tiefe zu geben. Und man kann sich an die Erklärung des seltsamen Verhältnisses von Siegfried und Brunhild im neueren Nibelungenlied erinnern. Nämlich dass Siegfried Brunhilde schon früher einmal gesehen zu haben scheint. Es ist nun klar, dass, was diesem Gebrauch Tiefe gibt, sein Zusammenhang mit dem Verbrennen eines Menschen ist. Wenn es bei irgendeinem Fest Sitte wäre, dass Menschen (wie beim Roß-und-Reiter-Spiel) auf einander reiten, so würden wir darin nichts sehen als eine Form des Tragens, die an das Reiten des Menschen auf einem Pferd erinnert; – wüssten wir aber, dass es unter vielen Völkern Sitte gewesen wäre «↓ etwa» Sklaven als Reittiere zu benützen und so beritten gewisse Feste zu feiern, so würden wir jetzt in dem harmlosen Gebrauch unserer Zeit etwas Tieferes und weniger Harmloses entdecken. »sehen«. »finden«. Die Frage ist: haftet dieses – sagen wir – Finstere dem Gebrauch des Beltane Feuers wie er vor 100 Jahren geübt wurde (an sich) an, oder nur dann, wenn die Hypothese seiner Entstehung sich bewahrheiten sollte. Ich glaube, es ist offenbar die innere (MS 143, p. 11) Natur des »neuzeitlichen« Gebrauchs selbst, die uns finster anmutet, und die uns bekannten Tatsachen von Menschenopfern weisen nur die Richtung, in der wir den Gebrauch ansehen sollen. Wenn ich von der inneren Natur des Gebrauchs rede, meine ich alle Umstände, in denen er geübt wird, und die in dem Bericht von so einem Fest nicht enthalten sind, da sie nicht sowohl in bestimmten Handlungen bestehen, die das Fest charakterisieren, als in dem was man den Geist des Festes nennen könnte, welcher beschrieben würde, indem man z.B. die Art von Leuten beschriebe, die daran teilnehmen, ihre übrige Handlungsweise, d.h. ihren Charakter; die Art der Spiele, die sie sonst spielen. Und man würde dann sehen, dass das Finstere im Charakter dieser Menschen selbst liegt. (MS 143, p. 12)
619
Hier sieht etwas aus wie die Überreste eines Losens. Und durch diesen Aspekt gewinnt es plötzlich Tiefe. Würden wir erfahren, dass der Kuchen mit den Knöpfen in einem bestimmten Fall etwa »ursprünglich« zu Ehren eines Knopfmachers »zu seinem Geburtstag« gebacken worden sei und sich der Gebrauch dann in der Gegend erhalten habe, so würde dieser Gebrauch tatsächlich alles »Tiefe« verlieren, es sei denn, dass es in seiner gegenwärtigen Form an sich liegt. Aber man sagt in so einem Fall oft: »dieser Gebrauch ist offenbar uralt«. Woher weiß man das? Ist es nur weil man historisches Zeugnis über derartige alte Gebräuche hat? Oder hat es noch einen andern Grund, einen den man durch Interpretation gewinnt? Aber auch, wenn die vorzeitliche Herkunft des Gebrauchs und die Abstammung von einem finstern Gebrauch historisch erwiesen ist, so ist es doch möglich, dass der Gebrauch heute gar nichts mehr Finsteres an sich hat, dass nichts von dem vorzeitlichen Grauen an ihm hängen geblieben ist. Vielleicht wird er heute nur mehr von Kindern geübt, die im Kuchenbacken und Verzieren mit Knöpfen wetteifern. (MS 143, p. 13)
Dann liegt das Tiefe also nur im Gedanken an jene Abstammung. Aber diese kann doch ganz unsicher sein und man möchte sagen: »wozu sich über eine so unsichere Sache Sorgen machen ›sorgen‹« (wie eine rückwärts schauende Kluge Else). Aber solche Sorgen sind es nicht. – Vor allem: woher die Sicherheit dass ein solcher Gebrauch uralt sein muss (was sind unsre Daten, was ist die Verifikation)? Aber haben wir denn eine Sicherheit, können wir uns nicht darin irren und des Irrtums «↓ historisch» überführt werden? Gewiss, aber es bleibt dann noch immer etwas, dessen wir sicher sind. Wir würden «↓ dann» sagen »Gut in diesem einen Fall mag die Herkunft anders sein, aber im allgemeinen ist sie sicher die vorzeitliche«. Was uns dafür Evidenz ist, das muss die Tiefe dieser Annahme enthalten. Und diese Evidenz ist wieder eine «↓ nicht- hypothetische» psychologische. Wenn ich nämlich sage: das Tiefe an diesem Gebrauch liegt in seiner Herkunft, wenn es sich so zugetragen hat. So muss liegt also entweder das Tiefe in dem Gedanken an so eine Herkunft oder das Tiefe ist «↓ selbst» nur hypothetisch und man kann nur sagen: Wenn es sich so zugetragen (MS 143, p. 14) hat, so war das eine finstere tiefe Geschichte. Ich will sagen: Das Finstere, Tiefe liegt nicht darin, dass es sich mit der Geschichte dieses Gebrauches so verhalten hat, denn vielleicht hat es sich gar nicht so verhalten; auch nicht darin, dass es sich vielleicht oder wahrscheinlich so verhalten hat, sondern in dem, was mir Grund gibt, das anzunehmen. Ja woher überhaupt das Tiefe und Finstere im Menschenopfer. Denn sind es nur die Leiden des Opfers die uns den Eindruck machen? Krankheiten aller Art, die mit ebensoviel Leiden verbunden sind, rufen diesen Eindruck doch nicht hervor. Nein, dies Tiefe und Finstere versteht sich nicht von selbst, wenn wir nur die Geschichte der äußeren Handlung erfahren, sondern wir tragen es wieder hinein aus einer Erfahrung in unserm Innern.
Die Tatsache, dass das Los durch einen Kuchen gezogen wird, hat (auch) etwas besonders Schreckliches (beinahe wie der Verrat durch einen Kuss), und dass uns das besonders schrecklich anmutet, hat wieder eine wesentliche Bedeutung für die Untersuchung solcher (MS 143, p. 15) Gebräuche {eines solchen Gebrauchs}.
Es ist, wenn ich so einen Gebrauch sehe, von ihm höre, wie wenn ich einen Mann sehe, wie er bei »Gelegenheit« geringfügigem Anlass streng mit einem andern spricht, und aus dem Ton «↓ der Stimme» und dem Gesicht merke, dass dieser Mann bei gegebenem Anlass furchtbar sein kann. Der Eindruck, den ich hier erhalte, kann ein sehr tiefer und außerordentlich ernster sein.
Die Umgebung einer Handlungsweise.
Eine Annahme Überzeugung liegt jedenfalls den Annahmen über den Ursprung des Beltanefestes – z.B. – zu Grunde; die ist, dass solche Feste nicht von einem Menschen, sozusagen aufs Geratewohl, erfunden werden, sondern eine unendlich viel breitere Basis brauchen, um sich zu erhalten. Wollte ich ein Fest erfinden, so würde es baldigst aussterben oder aber auf solcher Weise modifiziert werden, dass es einem allgemeinen Hang der Leute entspricht.
Was aber wehrt sich dagegen anzunehmen, das Beltanefest sei immer in der gegenwärtigen (oder jüngstvergangenen) Form gefeiert worden? Man möchte sagen: Es ist zu sinnlos, um so erfunden worden (MS 143, p. 16) zu sein. Ist es nicht, wie wenn ich eine Ruine sehe und sage: das muss einmal ein Haus gewesen sein, denn niemand würde einen so beschaffenen Haufen behauener und unregelmäßiger Steine errichten? Und wenn gefragt würde: Woher weißt du das, so könnte ich nur sagen: Meine Erfahrung mit den Menschen lehrt es mich. Ja selbst da, wo sie wirklich Ruinen bauen, nehmen sie die Formen von eingestürzten Häusern her.
Man könnte auch so sagen: Wer uns mit der Erzählung vom Beltanefest einen Eindruck machen wollte, brauchte jedenfalls die Hypothese von seiner Herkunft nicht zu äußern, sondern er brauchte uns nur das Material (das zu dieser Hypothese führt) vorlegen und nichts weiter dazu sagen. Nun möchte man vielleicht sagen:
»Freilich, weil der Hörer, oder Leser, den Schluss selber ziehen wird!« Aber muss er diesen Schluss explizite ziehen? Also, überhaupt ziehen? Und was ist es denn für ein Schluss? Dass das oder jenes wahrscheinlich ist?! Und wenn er den Schluss selber ziehen kann, warum wie soll ihm der Schluss einen Eindruck machen? Was ihm den Eindruck macht, muss doch das sein, was er nicht gemacht hat! Impressioniert ihn also erst die geäußerte oder jede Hypothese (ob von ihm oder andern geäußert) oder schon das Material zu ihr? (MS 143, p. 17)
Aber könnte ich da nicht ebenso gut fragen: Wenn ich sehe, wie einer umgebracht wird, – impressioniert mich da einfach, was ich sehe, oder erst die Hypothese, dass hier ein Mensch umgebracht wird?
Aber es ist ja nicht einfach der Gedanke an die mögliche Herkunft des Beltanefestes, welcher den Eindruck mit sich führt, sondern, was man die ungeheure Wahrscheinlichkeit dieses Gedankens nennt. Als das, was vom Material hergenommen ist.
So wie das Beltanefest auf uns gekommen ist, ist es ja ein Schauspiel und ähnlich wie wenn Kinder Räuber spielen. Aber doch nicht so. Denn wenn es auch abgekartet ist, dass die Partei, die das Opfer rettet, gewinnt, so hat doch was geschieht noch immer einen Temperamentszusatz, den die bloße schauspielerische Darstellung nicht hat. – Aber auch wenn es sich bloß um eine ganz kühle Darstellung handelte, würden wir uns doch beunruhigt fragen: was soll diese Darstellung, was ist ihr Sinn?! Und sie könnte uns abgesehen von jeder Deutung dann durch ihre eigentümliche Sinnlosigkeit beunruhigen. (Was zeigt, welcher Art der Grund so einer Beunruhigung sein kann.) Würde nun etwa eine harmlose Deutung gegeben: Das (MS 143, p. 18) Los werde einfach geworfen, damit man das Vergnügen hätte, jemandem damit drohen zu können, ins Feuer geworfen zu werden, was nicht angenehm sei; so wird das Beltanefest allerdings viel ähnlicher einem jener Belustigungen, wo einer der Gesellschaft gewisse Grausamkeiten zu erdulden hat, und die, so wie sie sind, ein Bedürfnis befriedigen. Und das Beltanefest würde durch so eine Erklärung auch wirklich jedes Geheimnisvolle verlieren, wenn es eben nicht selbst in der Handlung wie in der Stimmung von solchen gewöhnlichen Räuberspielen etc. abwiche.
Ebenso, dass Kinder an gewissen Tagen einen Strohmann verbrennen, auch wenn dafür keine Erklärung gegeben würde, könnte uns beunruhigen. Seltsam dass ein Mensch festlich «↓ von ihnen» verbrannt werden sollte! Ich will sagen: die Lösung ist nicht beunruhigender als das Rätsel.
Warum soll es aber nicht wirklich nur (oder doch zum Teil) der Gedanke sein, der mir den Eindruck gibt? Sind denn Vorstellungen nicht furchtbar? Kann mir bei dem Gedanken, dass der Kuchen mit den Knöpfen einmal dazu gedient hat, das Todesopfer auszulosen, nicht schaurig zumute werden? Hat nicht der Gedanke (MS 143, p. 19) etwas Furchtbares? – Ja, aber das, was ich in jenen Erzählungen sehe, gewinnen sie doch durch die Evidenz, auch durch solche, die damit nicht unmittelbar verbunden zu sein scheint, durch den Gedanken an den Menschen und seine Vergangenheit, durch all das Seltsame, das ich in mir und dem andern sehe, gesehen und gehört habe. (MS 143, p. 20)
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Das kann man sich sehr gut denken – und als Grund wäre etwa angegeben worden, dass die Schutzheiligen sonst gegeneinander ziehen würden und dass nur einer die Sache dirigieren könne. Aber auch das wohl nur eine (nachträgliche) Ausdeutung des Instinkts.
Alle diese verschiedenen Gebräuche zeigen, dass es sich hier nicht um die Abstammung des einen vom andern handelt, (MS 143, p. 21) sondern um einen gemeinsamen Geist. Und man könnte alle diese Zeremonien selber erfinden (erdichten). Und der Geist, aus dem man sie erfände, wäre eben ihr gemeinsamer Geist.
641. Die Verbindung von Krankheit und Schmutz. »Von einer Krankheit reinigen«.
Es liefert eine einfache kindliche Theorie der Krankheit, dass sie ein Schmutz ist, der abgewaschen werden kann.
Wie es »infantile Sexualtheorien gibt«, so überhaupt infantile Theorien. Das heißt aber nicht, dass alles was ein Kind tut aus einer (MS 143, p. 22) infantilen Theorie als seinem Grund hervorgegangen ist.
Das Richtige und Interessante ist nicht zu sagen, das ist aus dem hervorgegangen, sondern: es könnte so hervorgegangen sein. (MS 143, p. 23)
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Dass das Feuer zur Reinigung gebraucht wurde, ist klar. Aber nichts kann wahrscheinlicher sein, als dass die denkenden Menschen Reinigungszeremonien, auch wo sie ursprünglich nur als solche gedacht gewesen wären, später mit der Sonne in Zusammenhang gebracht haben. Wenn sich einem Menschen ein Gedanke aufdrängt (Feuer-Reinigung) und einem ein anderer (MS 143, p. 24) (Feuer-Sonne), was kann wahrscheinlicher sein, als dass sich einem Menschen beide Gedanken aufdrängen werden. Die Gelehrten, die immer eine Theorie haben möchten!!!
Die gänzliche Zerstörung durch das Feuer anders als durch Zerschlagen Zerreißen etc. muss den Menschen aufgefallen sein.
Auch wenn man nichts von einer solchen Verbindung des Reinigung und Sonne Gedankens wüsste, könnte man annehmen, dass er irgendwo wird aufgetreten sein. (MS 143, p. 25)
680 »soul-stone« Da sieht man, wie eine solche Hypothese arbeitet. (MS 143, p. 26)
681
Das würde darauf deuten, dass hier eine Wahrheit zu Grunde liegt und kein Aberglaube. (Freilich ist es dem dummen Wissenschaftler gegenüber leicht, in den Geist des Widerspruchs zu verfallen.) Aber es kann sehr wohl sein, dass der völlig enthaarte Leib uns in irgend einem Sinne den Selbstrespekt zu verlieren verleitet. (Brüder Karamasoff) Es ist gar kein Zweifel, dass eine Verstümmelung, die uns in unseren (MS 143, p. 27) Augen unwürdig, lächerlich, aussehen macht, uns allen Willen rauben kann, uns zu verteidigen. Wie verlegen werden wir manchmal – oder doch viele Menschen (ich) – durch unsere physische oder ästhetische Inferiorität. (MS 143, p. 28)]
- ↑ Wittgenstein, L. 2016–. Interactive Dynamic Presentation (IDP) of Ludwig Wittgenstein’s philosophical Nachlass, ed. by the Wittgenstein Archives at the University of Bergen under the direction of Alois Pichler, Bergen.